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#Dagg – Lesen, um zu Leben

Zäh kann sich das Leben gestalten. Das Leben oder das Lesen? Nur zäh komm ich mit der Juli Zeh voran. Das liegt daran, dass ich bei jedem dritten Satz “Über Menschen” hängenbleibe. Ich muss das Buch nur aufschlagen und weiterlesen wollen, schon kommt wieder so ein Satz. Ein Satz, der nach meinen Gedanken greift, der meine Muße zum Stolpern bringt. Juli Zeh beschreibt, wie sie ihre Zeit gerne als Leserin verbringen würde. Sie hat also dasselbe Problem wie ich!  Es gelingt ihr nicht, weil die individuelle Auseinandersetzung mit dem Text, das Lesevergnügen vollends ruiniert. Tatsächlich ist es so: Der Lesestoff zwingt mich in die Knie.

„Wenn das die conditio humana ist, was gibt es dann zu erreichen? Wenn selbst historisch einzigartiger Massenluxus nicht zu leidlichem Wohlbefinden führt, welche Aufgabe bleibt dann dem Fortschritt?“ ( Nachzulesen auf Seite 173 der festgebunden Ausgabe, die mir mein Buchhändler ohnehin nur sehr widerwillig aushändigte.)

Wahrscheinlich hat der Verkäufer mich deswegen vor dem Buch gewarnt. Das ist nichts für Leseanfänger, hat er gesagt. Dabei ist die Sache doch ganz anders gelagert. Ich finde, dass dieses Buch sich ausgezeichnet für Denkanfängerinnen wie mich eignet. Und je länger ich an dem Roman lese, desto mehr verstehe ich, dass Lesen nicht so viel Zeit braucht, weil ich langsam lese, sondern weil ich langsam denke. Oh Gott! Ich bin eine Denkanfängerin 40+!

Wenn das die conditio humana ist, dass das Denken schon Luxus ist, dann ist es doch wirklich kein Wunder, wenn Massen sich das nicht leisten können. Das Denken. Das Lesen. Alles muss schnell gehen. Da erstaunt es doch keinen Menschen, wenn ich eine Angststörung in Kombination mit einer Erschöpfungsdepression ausfasse.

Macron hat Le Pen auf den letzten Metern besiegt. Ein Sieg für Macron. Aber über die Menschen in Frankreich sagt das wenig aus, höre ich in den Nachrichten. Ich höre und verstehe nicht. Ist die Demokratie das Problem? Ich finde, das Hören noch schwieriger ist als Lesen. Und Verstehen ist schwieriger als Denken. Alles, was man selber tun muss, ist schwierig. Aber was ich wirklich tun muss, ist an meiner Kassa sitzen, die Artikel abpiepen und das Wechselgeld richtig herausgeben. Piep. Piep. Piep. Das macht mein Leben einfach. Wenn die Angst kommt, piepe ich sie einfach weg. Ich klappe mein Buch zu. Piep. Piep. Piep. Piep. Das bringt mir leidliches Wohlbefinden.

#Dagg: Wider die weibliche Verfügbarkeit

In der Wochenendausgabe meiner Zeitung habe ich eine Buchbesprechung gefunden: „Die Erschöpfung der Frauen“. Das hat mich sehr angesprochen. Der Untertitel lautet: Wider die weibliche Verfügbarkeit. Die Autorin, Franziska Schutzbach, eine in der Schweiz lebende Geschlechterforscherin, Soziologin und Publizistin, arbeitet sich an der modernen Frau ab. Sofort habe ich erkannt, dass das ein Buch für mich ist. Ich bin eine moderne Frau. Parallel zu Juli ZehÜber Menschen“ werde ich das gut lesen können. Denn Doras Erschöpfung in dem Roman hat doch wirklich ein gutes begleitendes Sachbuch verdient. Endlich kann sie einen Garten anlegen. Aber die Arbeit geht ihr nicht so von der Hand, wie sie sich das vorgestellt hat. Und ihre Nachbarn reagieren auf sie, die junge Frau aus der Stadt, mit Skepsis, Zurückhaltung, Ablehnung. Dora ist eine erschöpfte Frau. Ich auch.

Angesichts der Tatsache, dass ich allerdings innerhalb eines Monats über die ersten 50 Seiten von Julie Zeh nicht hinausgekommen bin und nun auch noch dieses zweite Buch neben meinem Lesesessel am Boden liegt, überkommt mich eine Art von Erschöpfungszustand, der weit über meine übliche Alltagsantriebslosigkeit hinausgeht. Wenn ich abends ins Bett falle, bin ich zu kraftlos, um eines der beiden Werke noch zur Hand zu nehmen. Da erscheint es mir doch wesentlich einfacher, es meiner Lieblingskundin gleichzutun. Sie erinnert mich immer wieder an das Labyrinth der Wörter, wenn sie in ihrem beigen Übergangsmantel neben dem Kassaband steht und wartet, bis sie an die Reihe kommt. Nach wie vor kauft sie jeden Vormittag ein. Genau diese eine Flasche Wein, manchmal auch Brot oder andere reduzierte Lebensmittel. Nie mehr als drei Artikel. Piep. Piep. Piep. Sie steckt alles in ihre schäbige Stofftasche, die sie bestimmt schon hundert Mal gewaschen und vielleicht sogar geflickt hat. Billige Literware. Die beseitigt meine Erschöpfung nicht. Sie verbrämt sie nicht einmal. Sie erklärt sie mir allerdings auch nicht.

#Dagg Tiere Englands …

Journalstudio, Dienstag der 29. März. Verhandlungen zum Ukrainekrieg in der Türkei. Die Zuständigen für die Verteilung von Flüchtlingen auf die einzelnen Länder und Bundesländer bitten um keine Diskussion über Quoten. Sehr seltsam. Niemand kann sich eine Gewinnausschüttung ohne Quoten vorstellen. Ein aliquoter Anteil des Gehalts geht für Steuern drauf. Wettquoten. Einschaltquoten. Importquoten. Abfallquoten. Für alles, was gerecht sein soll, gibt es Quoten. Aber eine Flüchtlingsverteilungsquote und eine Frauenquote brauchen wir mit Sicherheit nicht. Da genügt uns das Augenmaß voll und ganz. Österreichs Bauern suchen weiterhin dringend Kräfte für die Erdbeer- und Spargelernte. Je teurer die Arbeitskräfte, desto niedriger der Gewinn. Ein Job also, den vor allem Frauen und andere Ausländer annehmen sollten, um zur Gesellschaft etwas beizutragen.

Außerdem, so höre ich, besteht überhaupt kein Grund zu befürchten, dass Russland Atomwaffen einsetzen könnte. Das sagt fünf Wochen nach Kriegsbeginn der russische Außenminister. Warum fällt mir bloß Orwell ein? Welches Tier bin ich, auf dieser Farm der Tiere? Fragen über Fragen. Aber dunkel glaube ich mich, daran zu erinnern, dass noch drei Tage vor Kriegsbeginn hoch und heilig beteuert wurde, dass es niemals zu einem Überfall auf das Brudervolk kommen würde.

Anstatt sich mit der näheren Geschichte zu beschäftigen – mit dem, was vor drei Wochen oder drei Monaten oder auch vor drei Jahren war – diskutiert man mit Heftigkeit eine Fernseh-Watschen, die einer dem anderen gegeben hat. Um beim Tierreich zu bleiben: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Ein Diskurs als Ersatzbefriedigung für einen anderen, viel dringenderen. Denn manche sind gleich und mache gleicher.

Meine Giséle kauft wieder täglich ihren billigen Wein. Sie spart bei sich selbst. Was man von hier aus sehen kann, sind das die alltäglich Dinge, die mich bewegen. Heute nehme ich mir nach der Arbeit auch einmal einen Liter von Giséles Lieblingströpfchen mit nach Hause. Prost!

Blütenpelz (@Anna Aldrian)